(Spiritualität — Kapitel 1)
Der Mensch ist älter als alle Philosophien und Religionen. Sie waren ursprünglich dazu gedacht und deshalb später ausgeformt und weiterentwickelt worden, um sein moralisches und spirituelles Wohl zu sichern, damit er am Ende Erlösung oder Freiheit von der Knechtschaft des Gemüts und der Materie erlangen kann. Doch trotz Wohlstand, ethischen Prinzipien und enormer Gelehrsamkeit, Wissen und Weisheit die er erworben hat, ist der Mensch im Allgemeinen nicht wirklich mit seinem Leben zufrieden, weil er nicht in der Lage ist, die grundlegende Wahrheit der Liebe, den Kern aller Religionen, zu erkennen.
Gott schuf den Menschen und der Mensch schuf die Religionen. Eigentlich sind die Religionen für den Menschen gemacht und nicht der Mensch für die Religion. Hinduismus, Buddhismus, Christentum, Islam, Sikhismus und andere – sie alle entstanden im Laufe der Zeit, entsprechend dem, was die damaligen Bedingungen erforderten, um diesem primären menschlichen Bedürfnis zu dienen.
Wenn wir in die Vergangenheit zurückreisen, finden wir keine Spur von den Sikhs vor fünfhundert, von den Muslimen vor vierzehnhundert, von den Christen vor zweitausend und von den Buddhisten und Jains vor fünf- oder sechstausend Jahren.
Vor dem Aufkommen der arischen Stämme erschienen viele Völker und verschwanden auch wieder von der Bühne des Lebens. Aber der Mensch ist stets Mensch geblieben, der Herr der Schöpfung, in allen Zeiten und Ländern. Ob im Osten oder im Westen, immer und überall ist er in seiner wesentlichen Natur derselbe: ein beseelter Körper oder eine verkörperte Seele, unabhängig von sozialem Stand, Glauben oder Rasse. Das innere Selbst in ihm ist von der gleichen Essenz wie Gott.
Das Bewusstsein im Menschen
ist von derselben Essenz
wie der alles durchdringende Geist.
— Gond Kabir
Alle Kreaturen sind Geschöpfe
von ein und derselben Jauhar (Essenz).
— Sheikh Saadi (14)
Jedes Land, jede Epoche hatte seine Weisen und Seher. Abwandlung und Verfall sind natürliche Merkmale der Zeit. Und immer wieder erscheinen Propheten, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Alle Religionen verdanken ihre Geburt den Lehren dieser Meisterseelen.
Das Ziel der verschiedenen religiösen Gemeinschaften war immer das Gleiche: Einen Weg zurück zu Gott zu zeigen, das fehlende Bindeglied zwischen Gott und dem Menschen zu finden. Sie sind somit ein Mittel zum Zweck, aber nicht das Ziel an sich. In der Praxis stellen wir jedoch fest, dass keine von ihnen uns in hohem Maß zufriedenstellen kann. Die Schuld liegt nicht bei den Religionen, sondern bei denen, die sie den Menschen vermitteln.
Quellenangaben:
(14) Sheik Saadhi: Dichter, 13th century