(Spiritualität — Kapitel 2)
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2 Wahre Religion ist universale Liebe und Erinnerung an Gott
2.1 Alle Menschen haben von Gott die gleichen Rechte erhalten
2.2 Religiöse Unterschiede
2.3 Erinnerung an Gott
2.4 Die grundlegenden Wahrheiten
2.5 Riten und Rituale in den Religionen
Was ist wahre Religion? Das ist die natürlichste Frage des Menschen und jeder wird in der einen oder anderen Phase des Lebens damit konfrontiert. Uns stehen hunderttausende von Schriften und Abhandlungen zur Verfügung, die sich mit den wesentlichen Problemen des Daseins befassen. Sie sind sich jedoch in der Beantwortung dieser rätselhaften Frage nicht einig. Wir müssen daher unsere Nachforschung und unsere Suche nach einer ‘richtigen Lösung’ fortsetzen, die nur eine sein kann. Aber bevor wir mit dieser Aufgabe beginnen, müssen wir zuerst den Zweck der Religion oder des Dharma (15) kennen.
Das Ziel, das uns alle Religionen nennen, ist ein und dasselbe — göttliche Schönheit und den mit Glückseligkeit erfüllten Anblick des Herrn zu erfahren.
So wie viele Bogenschützen haben alle Religionen dasselbe Ziel im Auge. Wenn wir wirklich ernsthaft behaupten, dass wir Gott lieben, müssen wir auch Seine Schöpfung lieben – denn der Schöpfer und Seine Schöpfung sind eins. Wir können nicht das eine lieben und das andere hassen.
Alle Heiligen und Weisen handeln nach diesem Grundsatz und lieben die Menschheit als solche – es spielt dabei keine Rolle, ob jemand an Gott glaubt oder nicht. Sie machen keinen Unterschied zwischen einem Theisten, Atheisten oder Agnostiker (16). Sie glauben an die eine große Familie Gottes. Sie lieben alle, trotz der scheinbaren Unterschiede in den unwesentlichen Dingen des Lebens.
Aber wie sieht es wirklich in der Welt aus?
Nachdem wir die grundlegende Wahrheit der Liebe vergessen haben, die an der Basis aller Religionen wirkt, sind wir vom Rettungsanker abgeschnitten und treiben steuerlos im Meer des Lebens umher. Jeder versucht, sich an einem Strohhalm festzuklammern, um sich selbst zu retten. Die natürliche Folge davon ist, dass wir nach einem kurzen Kampf gegen Sturm und Regen in das große Vergessen versinken. Wir lösen das Rätsel des Lebens nicht — woher wir kommen und wo wir gebunden sind, das Warum und Wofür des menschlichen Lebens.
Die Liebe ist daher die einzige wahre Religion. Der heilige Paulus wandte sich an die Galater mit den Worten:
“Dient einander in Liebe”
— Gal. 5,13
Leigh Hunt (17) erklärte:
“Wer seinen Mitmenschen dient,
liebt Gott und ist der wahre Liebende Gottes.”
Und ähnlich sagt Samuel Taylor Coleridge (18) in seinem bekannten Gedicht vom alten Seemann:
“Der betet am besten, der am besten liebt,
all die großen und die kleinen Dinge.
Denn der liebe Gott, der uns liebt,
erschuf und liebt sie alle.”
Johannes schreibt in seinem Brief:
“Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt,
denn Gott ist Liebe.”
— 1 Johannes 4,8
Christus, der große Apostel des Friedens, zeigte mit seinen denkwürdigen Worten mit Nachdruck ein Hauptprinzip des Lebens auf:
“Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”
— Matthäus 19,19 und 22:39
Und nochmals betonte er ausdrücklich:
“Liebe, und alle Dinge werden dir hinzugegeben.”
— Matthäus 6,33
Sheikh Saadi, ein muslimischer Heiliger, lehrte dasselbe:
“Wie die Glieder eines Körpers
so sind die Kinder Gottes miteinander verbunden.
Sie sind aus der gleichen Essenz entstanden.
Sollte einer von ihnen unter Fieber leiden,
werden auch die anderen unruhig.”
Sheikh Farid (19) und andere Heilige wiederholten ebenfalls diese Wahrheit in der gleichen Weise:
“Wenn du deinen Geliebten, Gott, finden willst,
so verletze die Gefühle von niemandem.”
— Shalok Farid
Guru Gobind Singh (20), der zehnte Guru der Sikhs, sagte:
“Wahrlich, wahrlich, ich sage euch,
Gott offenbart sich demjenigen, der liebt.”
Gott ist Liebe, unsere Seele ist von der gleichen Essenz wie Gott. Somit ist auch sie Liebe, und der Weg zurück zu Gott ist ebenso die Liebe.
Und wiederum heißt es:
Der Schöpfer und Seine Schöpfung sind eins.
Verletze Seine Schöpfung nicht, o Nandlal,
und ziehe dir nicht den Zorn Gottes zu.
— Bhai Nand Lal (21)
Alle heiligen und gottesfürchtigen Ergebenen haben nur eine Religion – die der Hingabe an Gott und der Liebe zu Seiner Schöpfung. Ein Mensch ist nicht besser als ein Schaf oder eine Ziege, wenn er nicht von Gefühlen der Liebe und Zuneigung für seine Mitmenschen angetrieben wird, ihre Freuden und Leiden teilt und ihnen in ihren Mühen und Sorgen beisteht. Wenn wir statt mit menschlichem Mitgefühl mit Bosheit, Hass, Eifersucht, Neid und Feindschaft erfüllt und mit Ärger, Gier und Selbstliebe belastet sind, sowie von Stolz und Vorurteilen beherrscht werden, können wir weder ein reines Herz haben, das das Licht Gottes in uns reflektieren kann, noch wahre Glückseligkeit erlangen.
Der Mensch, so wie er mit dem Geist Gottes beschenkt ist, ist das Höchste und die Krone der Schöpfung. Je mehr man seine Mitmenschen liebt, desto näher kommt man dem Schöpfer. Die ganze Schöpfung ist Seine Offenbarung und Sein Geist wohnt allen Formen und Mustern inne. Alle Farben haben ihren Farbton von Ihm. Sein Geist, der alles durchdringt, wirkt überall, und es gibt keinen Ort ohne Ihn.
“Jeder spiegelt das Licht wider,
das aus der Quelle des Selbst kommt.
O, keiner ist gut oder schlecht.”
— Parbhati Kabir (22)
“Der Teil ist im Ganzen und das Ganze im Teil.
Wo ist dann der Unterschied,
wenn beide das Eine wiederspiegeln?”
— Parbhati Kabir
Unterschiede in den Formen, der Lebensweise, der Kleidung und den äußeren Gebräuchen sind auf die naturgegebenen Bedingungen zurückzuführen. Das innere Wirken der Seele können sie nicht beeinträchtigen. Wie nichts lösen sie sich in Luft auf, wenn man sich über das Körperbewusstsein erhebt und in den göttlichen Bereich am Sitz der Seele eintritt.
Christus lehrte immer:
“Liebe Gott, deinen Herrn,
mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele,
mit deinem ganzen Gemüt und Verstand.”
— Matthäus 22,37
“Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.”
— Matthäus 19,19 und 22:39
“Liebt eure Feinde, segnet jene die euch fluchen.
Tut wohl denen die euch hassen und bittet für
die, die euch beleidigen und verfolgen, auf dass
ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.
Liebe Gott, deinen Herrn,
mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele,
mit deinem ganzen Gemüt und Verstand.
Seid also vollkommen, wie euer himmlischer
Vater vollkommen ist!”
— Matthäus 5,44-48
Dies ist wirklich wahre Religion, wahre Hingabe und wahre Meditation.
Das menschliche Herz ist der Sitz Gottes. Es wurde dem Menschen zu treuen Händen gegeben. Deshalb muss es sauber und rein gehalten werden, denn nur dann kann es Sein Licht widerspiegeln und das Leben wirklich gesegnet machen. Der Körper ist der Tempel Gottes. Die von Menschen gebauten Gotteshäuser halten wir äußerst sauber und ordentlich, aber dem heiligen Tempel Gottes, der wir wirklich sind, schenken wir kaum Beachtung.
Es gibt nur ein schöpferisches Prinzip für die ganze Schöpfung. Alle sind aus dem Licht Gottes geboren, das in allen leuchtet; und daher kann keines seiner Geschöpfe als ‘böse’ bezeichnet werden.
Thomas von Kempen (23) schreibt in seiner “Nachfolge Christi”:
“Von einem Wort gehen alle Dinge aus
und sie alle berichten von Ihm.”
Die Hindus nennen dieses schöpferische Prinzip ‘Naad’, die Muslime ‘Kalma’ und die Sikhs ‘Naam’.
“Die Wahrheit ist eine und nur eine,
obwohl sie die Weisen unterschiedlich beschreiben”,
heißt es in dem denkwürdigen Upanishaden-Text.
Sheikh Saadi sagte:
“Keine Religion ist höher als der Dienst am Menschen.
Rosenkranz, Altar und Gewänder haben keinen Wert.
Mein Geliebter ist in allen Herzen, und kein Herz ist ohne Ihn.
Wirklich gesegnet ist das Herz, in dem Er sich offenbart.
Sei sicher, dass Gott in allen Herzen wohnt.
Und daher muss jedes Herz geachtet werden.”
“Nicht mehr als ein Gebäude aus Stein ist die Kaaba (24) von Khalil (25),
doch die Kaaba des menschlichen Herzens ist der Sitz Gottes.
Von allen Pilgerfahrten ist die zum menschlichen Herzen die wahre.
Sie hat mehr Wert als zahllose Reisen nach Mekka (26).”
Das ist es, was Maulana Rumi (27), der große Heilige, rät:
“O Mensch, umkreise die geheime Kaaba des Herzens,
die anders ist als die Kaaba von Khalil.
Denn Gott selbst schuf die Kaaba des menschlichen Herzens.”
Maghrabi Sahib (28), ein großer Heiliger, erklärt:
“Auch wenn du zahllose Kasteiungen und Bußen verrichtest,
denen jeweils wohltätige Handlungen folgen,
und unzählige Fasttage,
die von tausend Gebeten und Myriaden
Nachtwachen begleitet werden,
wird dir das alles nichts nützen,
wenn du die Gefühle eines einzigen Menschen verletzt.”
Auch Hafiz (29) warnt:
“Trinke Wein nach Herzenslust, verbrenne
den heiligen Koran und übergib sogar
die heilige Kaaba den Flammen, wenn du willst,
aber verletze nicht die Gefühle irgendeines Menschen.”
All das wird als Sünde betrachtet, doch Hafiz sagt, dass es viel besser sei, sie zu begehen, als die Gefühle eines Menschen zu verletzen, denn das ist die größte und abscheulichste Sünde von allen.
Sheikh Saadi, ein muslimischer Heiliger, bestätigt:
“Die Gnade Gottes kommt niemals herab,
solange du nicht Seine Schöpfung liebst.
Gott verzeiht nur denen,
die zum Wohle Seiner Schöpfung arbeiten.”
Quellenangaben:
(15) Dharma: Begriff aus dem Hinduismus und Buddhismus, ethisch-religiöse Verpflichtung, kosmisches Ordnungsprizip
(16) Agnostiker: sind der Auffassung, dass die Existenz Gottes nicht geklärt werden kann
(17) James Henry Leigh Hunt: englischer Schriftsteller, 19. Jahrhundert
(18) Samuel Taylor Coleridge: englischer Dichter der Romantik, 19. Jahrhundert
(19) Farid du-Din Attar: Sufi-Heiliger und Dichter, heutiges Pakistan, 13. Jahrhundert
(20) Guru Gobind Singh: Guru der Sikhs, Indien, 18. Jahrhundert
(21) Bhai Nand Lal: Schüler von Guru Gobind Singh, bekannter Dichter, 18. Jahrhundert
(22) Kabir: indischer Dichter und Heiliger, wird als Vater der Spiritualität betrachtet, Weber vom Beruf, 14. Jahrhundert
(23) Thomas à Kempis: deutscher Mystiker, Augustinermönch, Schriftsteller, 15. Jahrhundert
(24) Kaaba: Zentrales Heiligtum des Islam, würfelförmiges Haus Gottes der Muslime in Mekka, heute Saudi-Arabien.
(25) Khalil: arabisch “Geliebter, bester Freund” — Beiname von Ibrahim, der die ursprüngliche Kaaba erbaute
(26) Mekka: muslimischer Wallfahrtsort in Saudi-Arabien
(27) Maulana Dschalal ad-Din Muhammad Rumi: persischer Sufi-Mystiker, 13. Jahrhundert
(28) Maghrabi Sahib: indischer Dichter und Heiliger, 13. Jahrhundert
(29) Hafiz: persischer Dichter und Mystiker, 14. Jahrhundert